Marktkommentar – 3. Quartal 2020

Leon Christian BreuerMarktkommentare, Top-News

Nullsummenspiele
Es ist erst ein halbes Jahr her, und doch sind die Erinnerungen an die Implosion der Börsenkurse in den vier Wochen zwischen Mitte Februar und Mitte März 2020 bereits verblasst. Das, was damals durch den ungebremsten Absturz der Kurse an den Börsen Angst und Schrecken verbreitete, ist zu einem Teil unseres Alltagslebens geworden. Den Ablauf des Corona-Crashs, seine Auslöser und dessen Auswirkungen auf das Denken und Handeln der Marktteilnehmer, haben wir durch zeitnah aktualisierte Kommentare in dieser Marktphase begleitet. Die Veröffentlichungen auf unserer Homepage sind zur Chronologie eines Ereignisses geworden, das in der Börsen-geschichte kein Vorbild hat. Liest man heute noch einmal das, was damals von elementarem Interesse war, so fragt man sich, ob all die Aufgeregtheit damals berechtigt war.
Die Antwort darauf lautet: Ja. All die Aufgeregtheit war berechtigt. Denn das, was heute bekannt ist, das Wissen darum, dass z. B. die Kurse der 30 Dax-Aktien Ende September 2020 eine Index-bewertung auf nahezu dem gleichen Niveau bilden wie vor einem Jahr, vor zwei Jahren und auch vor drei Jahren, dieses Nullsummenspiel im Vergleich von vier Bewertungspunkten, genau dies war vor sechs Monaten nicht abzusehen.

Gezeitenwenden
Hinter den Kulissen dieses also nur scheinbaren Non-Events haben sich gleich mehrere Welten auf den Kopf gestellt und das eigentliche Problem war, dass viele Erfahrungen aus der Vergangenheit sich (im Nachhinein) als Fallstricke erwiesen haben, wenn auf diesen Grundlagen Entscheidungen getroffen wurden.
Zum größten Problem für jeden Investor wurde die offensichtlich unumstößliche Annahme, dass die größte Rezession der vergangenen 100 Jahre auch zum größten Rückgang der Börsenindizes führen müsse. Grundsätzlich ist das absolut schlüssig, doch es kam etwas Neues ins Spiel – die Zentralbanken und Staaten intervenierten so stark, dass diese Effekte den Absturz der Börsen und in seiner Folge den Absturz der meisten Bewertungen von Kreditsicherheiten verhinderten. Niemals zuvor hatte es so etwas gegeben. Wie also hätte man in den Entscheidungen auf der Grundlage von vergangenheitsbezogenen Erfah-rungen berücksichtigen können, dass derartig effektive Game-Changer ins Spiel kommen könnten?
Die zweite große Verwerfung fand auf den Branchenebenen statt. Zwei Beispiele können dies eindrucksvoll demonstrieren: Technologie-Aktien waren im Allgemeinen auf der Gewinnerseite zu finden. Ölwerte auf der Verliererseite.

Growth vs. Value
Diese Verschiebungen in den Bewertungs-relationen erwiesen sich in den vergangenen zwei Jahren als außerordentlich konstant. Technologie verzeichnete Wachstum und die großen alten Substanzwerte in reifen Industrien, häufig mit enormen Eintrittshürden und berechenbar hohen Dividendenausschüttungen, litten unter den Fol-gen der Corona-Lockdowns. Royal Dutch Shell ist einer dieser Substanz-Giganten. 2018 konnte die Aktie noch historische Höchstkurse erreichen. Seitdem haben die Kurse einen Rückgang von ca. 70 % über sich ergehen lassen müssen.
Es ist fast gleich gültig: Wen immer man auf der Technologieseite diesem Bewertungsrückgang entgegenstellt, ob ebenfalls einen Börsengiganten wie Apple, einen Grafikkartenhersteller wie Nvidia, oder einen Onlinehändler wie Amazon (alle drei kommen aus den USA) – fast immer dürfen oder müssen die Investoren für denselben Zeitraum über eine Verdopplung des Börsenkurses staunen. Noch markanter wird es, wenn man sich den Energiemarkt ansieht und dabei auf Unternehmen wie die norwegische Nel ASA oder die spanische Solaria Energía y Medio Ambiente gestoßen wird. Der Aktienkurs von Nel hat sich seit 2018 nahezu vervierfacht. Im Energiesektor. Doch Nel setzt nicht auf fossile Energieträger wie Erdöl und -gas, sondern auf Wasserstoff. Solaria Energía hat seinen Aktienkurs seit 2018 verdreifacht. Sie planen und installieren Solar-, Wärme-, Photovoltaik- und Windenergieanlagen.
Die Frage nach der richtigen Bewertung einer Royal Dutch Shell im Vergleich zu einer Nel ASA stand in den gesamten zwei Jahren als eine der ganz großen Fragen symptomatisch für das große Dilemma aller Value-Investoren: Welchen Wert hat eine Ölaktie noch, wenn die Welt sich ändert und beschließen sollte, das große Ölzeitalter der vergangenen 100 Jahre zu beenden? Value-Trap nennt man diese große Falle, in die ein Investor tappen kann, wenn er nach einem preiswerten Einstieg für sein Investment sucht. Disruptive Technologien sind das Verhängnis: „Innovationen, die die Erfolgsserie einer bereits bestehenden Technologie, eines bestehenden Produkts oder einer bestehenden Dienstleistung ersetzen oder diese vollständig vom Markt verdrängen und die Investitionen der bisher beherrschenden Markt-teilnehmer obsolet machen.“ (Zitat Wikipedia).
Diese große Frage der vergangenen zwei Jahre ist im Corona-Crash und im Verlauf seiner phänomenalen Recovery-Period, der seit Mitte März 2020 laufenden Erholungsphase der Märkte, nicht kleiner geworden: Sehen wir etwas gänzlich Neues, oder wird sich das, was wir aktuell sehen, letztendlich nur als eine temporäre Störung des Alt-bewährten herausstellen?

Zinsen
Negative Zinsen? Wir bewegen uns in einem Marktumfeld für Anleihen und Investoren, das die Welt noch nicht gesehen hat. Nominal negative Zinsen gehören zur Kategorie des zuvor Unvorstellbaren und heute doch Realen. Die Welt ist daran bisher nicht zugrunde gegangen, doch dieses nominale – und real nach Inflation noch gravierendere – Verlustgeschäft für liquide Vermögenswerte hat ebenso große Auswirkungen auf die Steuerung von Vermögenwerten wie die Existenz von Aktienmarktcrashs oder disruptiven Technologien.
Die großen Fragen, die sich jeder Investor in liquides Vermögen selber beantworten muss, lauten nach wie vor: Wie viel Risiko (fallender Kurse) kann ich tragen, um Chancen wahrzu-nehmen? Und wie viel Risiko will ich tragen? Die Lösung dafür war bisher recht einfach. Wenn ich nur ein bestimmtes Risiko tragen wollte, dann habe ich nur die Hälfte oder ein Drittel des Vermögens z. B. in Aktien investiert. Für den Rest habe ich Zinsen bekommen. Heute stellt sich aber eine zweite Frage, die niemand bisher zu beantworten hatte: Ertrage ich es, für die Hälfte oder zwei Drittel meines Vermögens zunächst gering erscheinende, auf Dauer nach Inflation aber immer größere Verluste zu akzeptieren?

Risikomanagement
Es ist und bleibt ein Dilemma. Wer mit der Chance auf Ertrag investiert, wird anschließend hohen Wertschwankungen ausgesetzt sein. Wer diese Schwankungen durch ein passives Risiko-management und damit einen hohen Anteil an Anleihen spürbar begrenzen will (Begrenzung des Aktienanteils auf z. B. 30 % des liquiden Vermögens), wird in einer Welt ohne Zins sein Kapital bestenfalls erhalten können.
Ein aktives Risikomanagement ermöglicht höhere Investitionsquoten von Aktien, denn in fallenden Märkten wird der Aktienanteil systematisch durch Verkäufe gesenkt und in steigenden Märkten wieder erhöht. Anleihen werden nicht passiv und auf Dauer, sondern aktiv und temporär in den großen Marktabwärtsbewegungen gehalten. In Zeiten ohne Zins kann ein dynamisches Management der Aktien- und Anleihenquoten sein volles Potential konkurrenzlos ausspielen.

Bewährungsprobe Corona-Crash
G&W ist ein aktiver Risikomanager. Wir steuern den größten Teil der Chancen und Risiken auf der Ebene der einzelnen Aktien und haben die Aktienquoten der flexibel zu disponierenden Strategien im Verlauf des Corona-Crashs konsequent bis in Bereiche zwischen 10 % und 40 % gesenkt. Die unterschiedlichen Quoten erklären sich primär aus dem Anlageuniversum des jeweiligen Fonds. Je höher der Anteil an europäischen und damit auch deutschen Aktien war, umso weniger Aktien verblieben, die mit einem hohen Chancenpotential in den disruptiven Marktveränderungen dieses Jahres unterwegs waren. Die höchsten Chancenpotentiale im Marktabsturz konnte daher unser global investierender Nachhaltigkeitsfonds nutzen.

Bewährungsprobe Markterholung
Der Absturz der Aktienkurse war dramatisch. Er dauerte aber nur vier Wochen. Es war wichtig, die Investitionsquoten gesenkt zu haben. Einerseits konnte durch Verkäufe die Abwärtsdynamik gesenkt werden, andererseits war es für die Mehrzahl unserer Kunden wichtig zu wissen, dass bereits verkauft worden war und die Restrisiken des Marktes mit den verbleibenden niedrigen Aktienquoten problemlos getragen werden konnten.
Entscheidend war aber etwas anderes. Bereits Anfang Mai erreichten erste G&W-Fonds wieder Aktienquoten von 75 %. Die mathematischen Modelle identifizierten mehr Chancen als Risiken und zogen die Investitionsquoten der Aktien damit wieder in die Höhe. Ebenso wichtig war es, dass mathematisch-systematisch die großen Abwärts-trends von z. B. Ölwerten, Airlines und Banken vermieden wurden und die Chancen von US-Aktien wie Apple, Nvidia und Amazon oder europäischen Aktien wie Nel ASA und Solaria Energía genutzt werden konnten.

Marktausblick
Europäische Aktien haben seit Juni keine weiteren Fortschritte in ihrer Aufwärtsbewegung machen können. Seit vier Monaten steckt die Marktentwicklung in einer engen Bandbreite fest. Sie konnte sich nicht nach oben lösen. Nach unten durchgereicht wurde sie aber auch nicht – trotz aller Belastungen wie dem bevorstehenden Brexit und dem erneuten Aufflammen der Corona-Infektionszahlen. US-Investments haben stärker von den Kursgewinnen im Technologie- und Ge-sundheitssektor und den veränderten Gegeben-heiten der Corona-Krise profitieren können. Die Belastungen der US-Wahl und ein Sieg der Demokraten gelten nach entsprechenden Gewinnmitnahmen in den vergangenen Wochen bereits als weitgehend in den Kursen enthalten.

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